Probefahrt Mercedes 300 SEL AMG: Roter Stern
Probefahrt

Probefahrt Mercedes 300 SEL AMG: Roter Stern

Probefahrt Mercedes 300 SEL AMG: Roter Stern

1971 sorgte Mercedes AMG mit dem zweiten Platz beim 24-Stunden-Rennen auf dem Spa-Kurs für Furore. Heute ist der mythische rote 300 SEL zu einem zweiten Leben auferstanden.

Die ersten Meter mit dem roten Mercedes 300 SEL sind ein unerwartetes Erlebnis. Der Kombi ist äußerst schwer zu halten. Auf seinen superbreiten Raupenreifen versucht er, jede Spur auf dem Asphalt zu passieren und droht sogar, auf der Gegenfahrbahn zu rutschen.

Ein guter Anfang

Eigentlich dürften die Straßen rund um das baden-württembergische Winnenden vertrautes Terrain für eine leistungsstarke Limousine sein. Seine Heimatstadt ist AMG in Afalterbach, heute im Besitz von Daimler. Der ehemalige Tuning-Shop, benannt nach seinen Gründern Werner Aufrecht (A), Erhard Melcher (M) und dem Geburtsort von Aufrecht Großaspach (G), ist heute eine hochmoderne Autofabrik mit 750 Mitarbeitern und einer Jahresproduktion von 20 Luxusautos.

Die Fahrt auf der schmalen Nebenstraße ist nur eine kleine Ouvertüre, lässt uns aber ahnen, welches Spektakel ein schweres Auto auf dem Nordabschnitt des Nürburgrings bieten wird. Gleich an der Grenze, von der wir nach Afalterbach einfahren, zeigt uns ein kleiner Pavian die Grenzen von Fahrwerk und Luftfederung. Das Vorderrad hebt sich elegant vom Bürgersteig ab, der 1,5-Tonnen-Mercedes hüpft elegant in die entgegengesetzte Richtung und warnt uns deutlich davor, es zu übertreiben.

Generationswechsel

Der SEL ist nach heutigen Maßstäben auf der Straße ekelhaft, sodass Sie mit ihm in herausfordernden Umgebungen reisen. Ohne den Überrollschutzrahmen aus Stahl hätte sich hier niemand wie ein Rennwagen gefühlt. Das Armaturenbrett hat helle Holzapplikationen, der Boden ist mit einem schönen Teppich bedeckt, es gibt sogar einen echten Rücksitz. Es fehlt nur der Zigarettenanzünder, und anstelle des Radios verfügen die Standardversionen über eine Platte mit Schaltern für zusätzliche Scheinwerfer.

So zivil der große Mercedes auch wirken mag, 1971 wurde er zum Helden der heißen Sportnachrichten. Dann erzählte auto motor und sport unter dem Titel Swabian Raid, wie der rote AMG zur Sensation des 24-Stunden-Marathons auf dem belgischen Spa-Kurs wurde. Im Vergleich zu Ford Capri RS, Escort Rally, Alfa Romeo GTA und BMW 3.0 CS wirkte er wie ein exotischer Außerirdischer aus einer anderen Welt. Auch seine beiden Piloten Hans Hayer und Clemens Schikentanz waren eher unbekannte Namen, während Herren wie Lauda, ​​Pike, Glamsser oder Mas hinter den Werksautos saßen. Der "Schütze aus Württemberg" holte sich jedoch den Klassensieg und den zweiten Platz in der Gesamtwertung.

Akute Herz-Kreislauf-Erkrankung

Damals wurde der 300 SEL von einem speziell angefertigten 6,8-Liter-V8 mit Doppeldrossel, schärferen Nockenwellen, modifizierten Kipphebeln und Kolben angetrieben. Seine Leistung betrug 428 PS. Sek., Drehmoment - 620 Nm und die erreichte Geschwindigkeit - 265 km / h. Dieses 6,8-Liter-Aggregat mit Fünfganggetriebe existiert heute nur noch als Ausstellungsstück. Aus Platzgründen wurde 1971 auf ein klobiges elektronisches Motorsteuergerät verzichtet und es gab keinen automatischen Kaltstart. Infolgedessen ließ sich das Achtzylinder-Biest nur mit Hilfe einer großen Menge Spezialspray in Bewegung setzen.

Ein geschärftes Motorrad wurde mit einer Rennkupplung kombiniert, die erst nach zwei heldenhaften Starts abgenutzt war. Daher verwendete AMG einen 6,3-Liter-Motor, um den berühmten SEL zu entwickeln, dessen Leistung auf 350 PS erhöht wurde. Anstelle eines Schaltgetriebes ist ein serielles Automatikgetriebe integriert. Der auferstandene Mercedes AMG hat beeindruckende Scheinwerfer und eine heisere Prototypstimme, ist aber nicht mehr auf der Straße. Es scheint, dass die Viergang-Automatik einen wesentlichen Teil der Leistung aufnimmt.

Prototyp

Der Grund, warum dieser 300 SEL eine Kopie und kein Original ist, liegt in der Erfolgsgeschichte dieser unvergesslichen 24 Stunden im Spa begründet. Es stellt sich heraus, dass diese Geschichte einen einleitenden Teil und eine wenig bekannte Fortsetzung hat. Vierzehn Tage vor dem Rennen endete die Karriere von SEL AMG tatsächlich. Während der Fahrt mit dem 6,8-Liter-Hockenheim-Prototyp verlor Helmut Kellners in einer Kurve die Traktion, rutschte von der Strecke ab und kehrte zu Fuß an die Box zurück. Er zeigte AMG-Chef Aufrecht den Zündschlüssel und bemerkte trocken: „Hier ist Ihr Schlüssel. Aber du wirst es nicht mehr brauchen. “

Wie war die Reaktion von Aufrecht? "Ich war schockiert. Dieser Kellners trat nie wieder für mich an.“ Das Unfallauto wurde jedoch rund um die Uhr wieder aufgebaut. Nach der Teilnahme von „Spa“ versuchte der rote Läufer sein Glück in 24 Stunden am „Nürburgring“ und führte sogar einige Zeit, schied dann aber aus.

Nach einer solchen Karriere nahmen normale Rennwagen ihren rechtmäßigen Platz im Museum ein, aber das Schicksal von AMG war anders. Damals suchte der französische Rüstungskonzern Matra nach einem Fahrzeug, das innerhalb von 1000 Metern auf 200 km/h beschleunigen kann. Das war während des Kalten Krieges und die Franzosen schufen alternative Landebahnen für ihre Kampfflugzeuge, damit sie zum Beispiel auf bestimmten Abschnitten der Autobahn starten und landen konnten. Das Testfahrzeug musste nicht nur in Sekundenschnelle beschleunigen, sondern gleichzeitig auch seine Bodenhaftung testen – und natürlich über eine Verkehrsbescheinigung im Straßennetz verfügen.

Mit ihrem SEL 6.8 gewannen die Mitarbeiter von AMG den weltweiten Wettbewerb des französischen Unternehmens. Nach dem Eintritt ins Militär wurde der Renn-Mercedes sogar um einen ganzen Meter vergrößert, um zahlreiche Messinstrumente aufzunehmen. Das Auto fuhr ohne Probleme alleine auf der Autobahn nach Frankreich.

Die Geschichte schweigt über das Schicksal des Zweitplatzierten von Spa nach seinem Eintritt in die französische Armee. Auf jeden Fall ist das rote Original für immer weg. Deshalb haben sich die AMG-Chefs von heute entschieden, den Urahn ihres sportlichen Ruhms auf Basis des Mercedes 300 SEL 6.3 möglichst originalgetreu nachzubauen.

Erbe

Das Auto ist aus der Geschichte von AMG nicht mehr wegzudenken, und heute erinnert sich Werner Aufrecht: „Damals war es eine Sensation.“ Das ARD-Fernsehen startete seine Nachrichtensendung mit dem Mercedes-Stern, und die Erfolgsmeldung von AMG verbreitete sich über Tageszeitungen bis ins ferne kommunistische China.

Jahre später verkaufte Aufrecht AMG an Daimler. In seiner neuen Firma HWA kümmert er sich jedoch weiterhin um die Teilnahme von Mercedes an der DTM-Rennserie.

Pünktlich zum 40-jährigen Firmenjubiläum ist der historische Mercedes AMG wieder in seiner ganzen Pracht aufgetaucht. Auf dem Genfer Autosalon brachte kein anderer als Daimler-Chef Dieter Zetsche den neu renovierten Veteranen im Schein der Scheinwerfer auf die Bühne. Für Hans Werner Aufrecht selbst war dies eine "große Überraschung". Seine Freude wurde nicht getrübt, auch als der ehemalige Rennfahrer Dieter Glamser ihn daran erinnerte: „Hast du vergessen, wer die 24 Stunden gewonnen hat?

1971 gewann Glemser mit seinem Capri RS, dem letzten auf der Strecke verbliebenen Auto der Ford-Armada, das Rennen vor dem Mercedes-AMG. Was Aufrecht nicht davon abhielt, trotzig zu antworten: „Nun ja, aber wer erinnert sich heute noch daran?“

Text: Bernd Ostman

Foto: Hans-Dieter Zeifert

Kommentar hinzufügen